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Der 17. Juni 1953 in Leuna

Auch Leuna befand sich wie die gesamte DDR 1952/53 in einer Krise. Diese Situation schien sich am 9. Juli 1952 zuzuspitzen, als Walter Ulbricht den planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR verkündete. Dieser Beschluss resultierte aus der katastrophalen ökonomischen und sozialen Situation zu diesem Zeitpunkt. Die Linie der SED sah zur Sicherung eines stabilen Wachstumskurses vor, die Investitionsgüterindustrie zu stärken und die Konsumgüterindustrie zurückzufahren bzw. stagnieren zu lassen. Dies führte zu Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung. Die SED sah als Möglichkeit zur Senkung des Realeinkommens die Instrumente: Preiserhöhung, Mieterhöhung, Erhöhung der Normen und Verschärfung des Neuererwesens. Die SED erkannte, dass sie die Angebotsseite aufgrund des geringen Warenfonds nicht beeinflussen konnte. Die einzige Möglichkeit in den Markt einzugreifen, bestand in der Beschränkung der Nachfrage nach Konsumgütern durch obiges Instrumentarium. Hiervon waren nicht alle Leunawerker im gleichen Umfang betroffen. Nur die Preise für die Konsumgüter wirkten sich auf alle Mitarbeiter aus.

Die Problematik des Mittelstandes (im Sinne der volkswirtschaftlichen Definition beschränkt auf Handel und Gewerbe) und der Landwirtschaft bestand in Leuna nicht. Die Leuna-Werke dominierten die Wirtschaft am Standort. Sehr viele Aufgaben des Mittelstandes führte das Chemieunternehmen selbst aus. Die Handelsunternehmen waren Mieter des Werkes und wurden bereits Ende der 1940er Jahre unter Regie des russischen Generaldirektors der HO zugeführt. In den wenigen mittelständischen Unternehmen wurde am 17.6.1953 nahezu wie an jedem anderen Tag gearbeitet.

Der Verlauf des 17.6.1953 in Leuna

Für 8:00 Uhr war eine Versammlung zum Thema Normerhöhung in Bau 15 angekündigt. Hier sollten die neuen Normen erläutert werden. Arbeitsdirektor Halt sollte die Erörterung der 10% höheren  Norm durchführen. Da die Normerhöhung zurückgenommen wurde, erschien Halt nicht zur Versammlung, und die Mitarbeiter warteten auf ihn. Es entlud sich die Wut der Anwesenden und sie traten um 9:35 Uhr vor Bau 15. Erst jetzt wurde die gesamte Belegschaft des Unternehmens auf die Ereignisse im Werkstattbereich aufmerksam. Vor Bau 15 standen 3.000 Mitarbeiter.

Nun begaben sich die Leunawerker zum Bau 24, dem Sitz der Werksleitung. 40 bis 50 von ihnen kletterten auf das Dach des Gebäudes, entfernten alle SED-Parolen sowie die Bilder von Marx, Lenin und Ulbricht. Sie stellten aus einzelnen Buchstaben die Losung „Karl Marx - wir wollen die Freiheit“ zusammen. Zwischenzeitlich standen 4.000 Leunawerker vor Bau 24. Sprechchöre forderten „Herabsetzung der Normen!“, „Preissenkung für alle Lebensmittel um 40%!“, „Freilassung aller politischen Gefangenen!“, „Auflösung des BS-Amts!“, “Sturz von Regierung und ZK!“ und „Die Absetzung aller hauptamtlichen Funktionäre von SED und Massenorganisationen!“ Danach sangen alle Anwesenden das Deutschlandlied.

Um 9:50 Uhr erhielt das BS-Amt vom MfS Merseburg den Befehl sich abwartend zu verhalten. Danach brachen die Telefonverbindungen zum Volkspolizeikreisamt (VPKA) Merseburg, MfS Merseburg und BDVP Halle ab. Der BS-Amtsleiter, VP-Oberrat Krause, unterrichtete alle Polizisten, die er erreichen konnte, von der aktuellen Lage. Zwischenzeitlich hatten einige Leunawerker den ehemaligen Werksleiter Dr. Hermann Eckardt (er ist am 28.2.1953 in Rente gegangen) von zu Hause abgeholt und auf Schultern vor den Bau 24 getragen. Eckardt genoss bei der Belegschaft immer noch ein hohes Ansehen, da er sich immer für sie gegenüber den Russen eingesetzt hatte. Er rief zur Ruhe auf und empfahl den Streikenden, sich konkrete Forderungen zu überlegen.

Sie stellten folgenden Forderungskatalog zusammen:

1) Alle Spitzel, bezahlte und unbezahlte, sind sofort zu beseitigen
2) Keine Abführung der Gewerkschaftsbeiträge mehr an die jetzigen Stellen!
3) Sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen
4) Rücktritt der gesamten Regierung
5) Bessere Bezahlung für kaufmännische Angestellte
6) Ablösung der jetzigen TAN-Bearbeiter
7) Wiedereinführung der bezahlten Frühstückspause
8) Neuregelung der Bezahlung der Lohngruppen 1 bis 4
9) Regelung über Schwerarbeit von Frauen

Gegen 11:00 Uhr telefonierte der 1. SED-Kreissekretär, Karl Hertel, mit der Bezirksleitung Halle und teilte ihr mit, dass in Leuna die gesamte Sache außer Kontrolle geraten sei und er unbedingt Hilfe benötige. Aus Halle erhielt er jedoch auch keine Unterstützung. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich alle 33 hauptamtlichen Mitarbeiter in der Kreisleitung. Hertel unterbreitete ihnen folgenden Vorschlag: vier Freiwillige sollten die SED-Kreisleitung halten, so lange es ginge. Der 2. Kreisleitungssekretär Dr. Alfred Herbert, Günter Ziegler, Heinz Michaelis und Karl Pilger (Leiter der Kreisparteikontrollkommission KPKK) blieben. Hertel ging mit den restlichen Genossen in den Bunker der BBS. Dieser hatte jedoch kein Telefon, so dass man abgeschnitten war. Hertel kam nun die Idee, gemeinsam mit dem Kulturhausdirektor Horst Jonas Kurier zu sein. Sie nahmen über das Werkstelefon aus der Wohnung des 2. Kreissekretärs mit der Kreisleitung Verbindung auf. Dies ging bis 12:00 Uhr. Danach wollten Hertel und Jonas zur Bezirksleitung nach Halle fahren, um Hilfe zu holen. Sie kamen nur bis Merseburg, da es nach Halle kein Durchkommen gab. Nun wollten sie zur Bezirksleitung Leipzig, was ihnen auch gelang. Hier saßen sie jedoch fest.

Um 12:00 Uhr zogen auch 3.500 Streikende von Bau 24 nach Merseburg. Sie versuchten, drei Volkspolizisten mitzuschleifen, die sich jedoch wieder selbst befreiten. Das BS-Amt hatte die Kontrolle an den Werkstoren eingestellt.

Die in Leuna verbliebenen Aufständischen besetzten den Werksfunk, verbreiteten einen Streikaufruf und speisten den RIAS in das Werksfunknetz ein. Zeitgleich wurde versucht, am Werkstor der Jugend das Wachhaus zu zerstören, was jedoch die Volkspolizei verhinderte. Gegen 12:40 Uhr tauchte in Leuna das Gerücht auf, dass am 18.6.1953 um 15:00 Uhr in der gesamten DDR der Generalstreik ausbricht.

Um 15:00 Uhr kamen die Demonstranten aus Merseburg zurück und bildeten, gemeinsam mit den in Leuna Gebliebenen, eine Streikleitung, die sich im Hörsaal von Bau 24 einquartierte.

Die ersten Russenpanzer trafen kurz nach 16:00 Uhr in Leuna ein. Die Russen verhafteten gemeinsam mit den Volkspolizisten die aus rund 10 Personen bestehende Streikleitung. Der Aufstand brach nun zusammen und die Nachtschicht begann um 18:00 Uhr ohne besondere Vorkommnisse. Die Russen übernahmen die Nachtschicht der Torwache.

Jonas und Hertel hatten am Nachmittag VP-Oberrat Krause aus Leipzig angerufen und gebeten, sie abzuholen. Krause kam jedoch erst nach der Festnahme der Streikleitung an den Dienst-PKW heran. Jonas und Hertel trafen gegen 19:00 Uhr wieder im Leuna-Werk ein. Ebenfalls in den Abendstunden verließen die Mitarbeiter der Kreisleitung ihr Versteck in der BBS. In dieser Einrichtung verlief am 17.6.1953 der planmäßige Unterricht. Gegen 14:30 Uhr trafen sich die Lehrer zu einer Versammlung zur Erörterung der aktuellen Situation. Nur ein Lehrmeister beteiligte sich an den Arbeitsniederlegungen und wurde an den folgenden Tagen in die Produktion strafversetzt.

Die Verhaftung von „Rädelsführern“ erfolgte erst am 1.9.1953 in den frühen Morgenstunden. Sie wurden in der Folgezeit zu Freiheitsstrafen verurteilt. 

Die Angeklagten:

Günter Rux - 5 Jahre Zuchthausstrafe
Joachim Fiedler - 3 Jahre
Richard Kaufmann - 5 Jahre
Josef Pucek - 3 Jahre
Hans Tippmann - 2 Jahre und 6 Monate
Otto Rohrbach - 1 Jahr mit Sühnemaßnahme für 5 Jahre

Aus: Heimatgeschichtlicher Beitrag 2/2003; Leuna 2003